Osama (German Edition) by Tidhar Lavie

Osama (German Edition) by Tidhar Lavie

Author:Tidhar, Lavie [Tidhar, Lavie]
Language: deu
Format: epub
Tags: Osama: Roman
ISBN: 9783954030156
Publisher: Rogner & Bernhard
Published: 2013-05-15T22:00:00+00:00


Die Leiche in der Bibliothek

Er klopfte laut an die Tür, aber es gab keine Reaktion, und er erwartete auch keine. Passanten starrten ihn an. Er trat von der Tür zurück, funkelte sie an, doch sie wollte immer noch nicht aufgehen. »Ich komme wieder«, sagte er, worauf es ihm irgendwie besser ging. Flüchtig sah er zum Edwin Drood hinüber, dachte an einen Drink, fleckige Fenster, doch als das baufällige Gebäude ihn seinerseits aus seinen dunklen, fleckigen Scheiben anfunkelte, vertrieb es den Wunsch. Stattdessen ging er die Little Newport hinunter, vorbei an Buden, in denen Räucherwerk, Buddhastatuen, Poster von Sun Yat-sen, Kompasse, aus Kupferdraht geformte Tierfiguren, billiges Make-up, noch billigeres Parfüm verkauft wurden, vorbei an einer Tür, die sich auf ein Treppenhaus öffnete, in dem ein handgeschriebenes Schild darauf hinwies, dass Miss Josette oben für Französischstunden zu haben sei, ein anderes für Miss Bianca und Griechisch, vorbei an einem Knödelrestaurant, einer Bude, wo er seinen Namen in ein Reiskorn hätte eingravieren lassen können, und auf die Charing Cross Road.

Diesmal bog er nach rechts ab. Als er am Eingang zur U-Bahn vorbeikam, vermied er es, hinabzuschauen. Er rannte in die Menschenmenge, die sich in beide Richtungen über den Leicester Square schob, eine Hand immer auf seiner Tasche, wartete an der Ampel geduldig auf Grün, überquerte die Straße, ging am Wyndham’s Theatre vorbei, dann am Cecil Court mit seinen diversen Spezialbuchhandlungen und betrat die Stadtbibliothek Charing Cross.

Bibliotheken hatte Joe immer gemocht, wenn er sich auch nicht erinnern konnte, in letzter Zeit eine besucht zu haben. Es ging etwas Beruhigendes aus von dem engen Raum, den Buchreihen, die ordentlich Grenzen markierten, an Geräuschen nur das Umblättern von Seiten, geflüsterte Unterhaltungen und der gedämpfte Verkehrslärm von draußen. Er begab sich in die Leseecke und fand die Zeitungen der Woche ordentlich an Holzstäben drapiert, so dass sie aussahen wie ein Schwarm erschöpfter Albatrosse. Ein paar davon befreite er und zog sich an einen freien Tisch an der Wand zurück.

Vor drei Tagen.

Auf Seite eins fand er für keinen der Tage etwas.

Vor drei Tagen, und es kam ihm wie ein ganzes Leben vor.

Auf Seite zwei auch nicht.

Das Leben von irgendjemandem.

Die Nachtausgabe von vor drei Tagen. Seite drei. Eine Schießerei in Soho.

Er las es sich durch. Am frühen Nachmittag feuerten unbekannte Angreifer vor dem Red Lion in Soho Schüsse ab, Glas ging zu Bruch; die Gäste waren verstört. Eine Frau wurde wegen leichter Schnittwunden behandelt. Weitere Verletzte gab es nicht. »Wir nehmen das sehr ernst«, sagte ein Poli-zeisprecher, »und verfolgen alle vorliegenden Hinweise.«

Kein Mo. Kein Wort von Joe, der bewusstlos dalag. Irgendwie hatte er das auch gar nicht erwartet. Irrwirre, dachte er. Das Wort hinterließ einen schlechten Geschmack in seinem Mund. Er dachte: Flüchtlinge. Er fragte sich, was für Hinweise die Polizei wohl hatte. Vielleicht analysierten sie Proben von Zigarettenasche. Vor seinem geistigen Auge sah er sie, mit runden Vergrößerungsgläsern bewaffnet, über die ganze Stadt ausschwärmen und mit gebeugtem Rücken nach Spuren suchen. Er griff nach seinen Zigaretten, besann sich, dass man in Bibliotheken nicht rauchen durfte. Also keine Spur für die Polizei.



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